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Dr. Tim Reiss
Was kann Toleranz heute heißen?

Nachgedanken über Toleranz in Geist und
Historie der Lessing Hochschule

Die Notwendigkeit einer kohärenten Explikation und philosophischen Verteidi- gung und Begründung des Toleranzbegriffs scheint gegenwärtig mindestens so dringlich wie zu Lessings Zeiten.
Zugleich hat sich die gesellschaftliche Situa- tion im Hinblick auf den Pluralismus von Religionen und Weltanschauungen in wichtigen Hinsichten gewandelt. – Im folgenden sollen beispielhaft einige Über- legungen aus der in jüngerer Zeit intensiver geführten philosophischen Diskus- sion um den Toleranzbegriff vorgestellt werden, die sich auf eine Fragestellung konzentrieren. Die Schriften von John Rawls, Rainer Forst und Jürgen Habermas lassen sich im Hinblick auf das Argumentationsziel lesen, zu plausibilisieren, dass und wie begründet werden kann, dass es vernünftig und geboten ist, auf die zwangsweise Durchsetzung und das öffentliche Verbindlichmachen bestimmter Überzeugungen – mittelbar auch dadurch, dass allgemeine Gesetze durch diese Überzeugungen begründet werden – zu verzichten, ohne dass dies zur Voraus- setzung hätte, diese Überzeugungen als unwahr, unbegründet oder irrational ansehen zu müssen.
Moderne Gesellschaften sind durch das „Faktum des Pluralismus“ (J. Rawls) ge- prägt, d.h. durch eine dauerhafte Pluralität religiöser und säkular-weltanschau- licher Lehren. Gegenüber der Situation zu Zeiten Lessings hat sich dieser für moderne Gesellschaften charakteristische Pluralismus in mehrfacher Hinsicht dramatisiert: So lässt sich der gegenwärtige Pluralismus nicht nur im Hinblick auf eine nochmals gesteigerte Pluralität religiöser Orientierungen akzentuieren, sondern zusätzlich im Hinblick auf die Tatsache, dass religiöse und säkulare oder areligiöse Orientierungen dauerhaft koexistieren. Anders als eine Zeitlang durch die klassische Säkularisierungstheorie unterstellt, scheint die Koexistenz religiö- ser und nichtreligiöser Überzeugungssysteme ein dauerhaftes Merkmal der politi- schen Kultur jeder liberalen Gesellschaft darzustellen. Dazu hat sich das Verständ- nis dieser doppelten Pluralität nochmals gegenüber der Aufklärungsepoche in entscheidender Hinsicht radikalisiert: Die Vorstellung, der religiöse Pluralismus sei eine transitorische Erscheinung, da im Zuge der Selbstaufklärung des religiösen Bewusstseins an die Stelle der geschichtlichen Pluralität der positiven Religionen mehr oder weniger derselbe vernunftreligiöse Kerngehalt treten werde (eine Vor- stellung, die viel stärker noch als Lessing dann Kant und Hegel vertreten haben), ist mehr und mehr in den Hintergrund getreten und durch die Überzeugung von einer selbst als vernünftig ausweisbaren Permanenz des gegenwärtigen Pluralis- mus ersetzt worden. Vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung, dass die Begrenzung der Pluralität „umfassender Lehren“ (Rawls) nur um den Preis von Repression und Gewalt erreicht werden kann, liest das moderne Bewusstsein an der Gestalt des Pluralismus eine Struktureigenschaft der endlichen Vernunft ab. Der Pluralismus religiös-weltanschaulicher Orientierungen ist danach weder his- torisches Durchgangsstadium noch Ergebnis vermeidbarer Täuschungen und kor- rigierbarer Irrtümer, sondern Ergebnis des „freien Vernunftgebrauchs“ (Rawls). Die Haltung der Toleranz kann als eine angemessene Antwort auf die Heraus- forderung des religiös-weltanschaulichen Pluralismus verstanden und verteidigt werden. Hier lassen sich nun schon auf einer basalen Ebene zwei wesentlich verschiedene Verständnisweisen von Toleranz unterscheiden: Die Haltung der To- leranz lässt sich zum einen als eine Strategie des klugen, politisch-pragmatischen Umgangs mit Konflikten verstehen, die etwa im Hinblick auf ein faktisch beste- hendes Kräftegleichgewicht, in je konkreter Abwägung der vorhersehbaren Fol- gen alternativer Handlungsoptionen oder aus bloß instrumentellen Gründen die Akzeptanz der derzeitigen Unauflösbarkeit bestimmter Wertkonflikte im Sinne eines modus vivendi versteht. Die Haltung der Toleranz lässt sich zum anderen aber auch, und dieses zweite Verständnis soll im folgenden näher erläutert wer- den, als eine selbst normativ ausgezeichnete und begründbare, deshalb nicht nur instrumentell-kluge, sondern vernünftige Umgangsweise mit dem „Faktum des Pluralismus“ verstehen. Diese Unterscheidung zweier Verständnisweisen der Toleranz lässt sich näher er- läutern durch eine Unterscheidung in bezug auf ihren Gegenstand, d.h. in bezug auf diejenigen Überzeugungen, die als Kandidaten für Toleranz in frage kommen. Tolerant sein heißt aus der Perspektive desjenigen, der Toleranz übt, Überzeugun- gen zu tolerieren, die er selbst nicht teilt. Es kann sein, dass jemand bestimmte Überzeugungen anderer nicht teilt, weil diese aus seiner Perspektive irrational, nämlich evidenterweise, d.h. für jeden einsehbar falsch oder unmoralisch sind. Auch solche Überzeugungen zu tolerieren kann in bestimmten Fällen angemes- sen oder geboten sein – was aber im konkreten Fall unter Abwägung einer Reihe von Gesichtspunkten (u.a. vordringlich der Frage, inwiefern sich auf diese Über- zeugungen Handlungen gründen, die in Interessen Dritter eingreifen; inwiefern die Autonomie von Lernprozessen geschützt werden muss usw.) zu klären ist. Der aufschlussreichere Fall ist allerdings derjenige, wo jemand eine Überzeugung nicht teilt – und er auch nicht rational verpflichtet wäre, diese Überzeugung zu übernehmen, also seine eigene Überzeugung nicht unvernünftig ist – und gleich- wohl die nichtgeteilte Überzeugung selbst nicht als irrational verstanden werden kann.
Dass es solche Überzeugungen gibt, ist die epistemische „Entdeckung“, die 122 dem modernen normativen Konzept von Toleranz zugrunde liegt: Es gibt Über- zeugungen und Überzeugungssysteme, von denen weder gezeigt werden kann, dass es rational zwingend ist, sie zu übernehmen, noch dass es zwingend ist, sie aufzugeben. Im Falle des Konfligierens dieser Art von Überzeugungen ist die Rede von einem vernünftigen Dissens deshalb in besonderer Weise treffend. In diesem Fall ist eine Haltung der Toleranz gegenüber konfligierenden Überzeu- gungen grundsätzlich geboten. Das heißt beispielsweise allgemein in praktisch- politischen Kontexten, dass eine Verpflichtung besteht, dass Handlungen – ins- besondere Ausübungen staatlicher Zwangsgewalt – allen von ihnen Betroffenen gegenüber in einer Begrifflichkeit und unter Rekurs auf Gründe gerechtfertigt können werden müssen, die von allen Betroffenen gleichermaßen akzeptiert wer- den können; und das heißt, dass solche Begründungen nicht zur Rechtfertigung politischer Maßnahmen herangezogen werden dürfen, die nur für diejenigen Bürger akzeptabel sind, die eine bestimmte religiöse oder auch säkulare „um- fassende Lehre“ (Rawls) teilen. – Interessanterweise scheint gegenwärtig diese „epistemische Entdeckung“ von zwei Seiten bedroht, nämlich nicht nur durch einen religiösen, sondern gleichermaßen auch durch einen szientistischen Funda- mentalismus. Der szientistische „Säkularist“ (so der Ausdruck von Habermas), der behauptet, religiöse Überzeugungen seien falsch (die „Schlechte-Wissenschaft“- Theorie der Religion) oder sie seien überhaupt sinnlos, bestreitet gleicherma- ßen wie der religiöse Fundamentalist die für die epistemische Grundlegung des Toleranzgedankens zentrale Annahme, dass die Disjunktion zwischen für jeden rational zwingenden und irrationalen Überzeugungen nicht vollständig ist. Das säkularistische Bewusstsein kann deshalb auch zwischen Glauben und Aberglau- ben nicht unterscheiden. Toleranz kann hier gegenüber für irrational gehaltenen Überzeugungen nur nach dem ersten, dem pragmatischen Folgenabschätzungs- und modus vivendi-Modell verstanden werden. Toleranz ist dort grundiert durch die paternalistische Haltung bloß bedingter Akzeptanz abweichender Überzeu- gungen durch denjenigen, der eigentlich weiß, dass er es besser weiß, und dass auch der andere es eigentlich besser wissen könnte und müsste. – Das zweite, das nicht bloß pragmatische, sondern vernünftige Toleranz-Modell setzt dagegen voraus, dass es den logischen Raum gibt für Überzeugungen, die weder einfach irrational noch in einer bestimmten Gesellschaft allgemein akzeptabel sind. Vor dem Hintergrund einer solchen Erläuterung kann der Toleranzbegriff in ver- schiedenen Hinsichten präzisiert und gegen Einwände verteidigt werden. So lautet ein üblicher – und vor allem auch in politischen Kontexten gern zitierter – Einwand, der Begriff der Toleranz sei selbstwidersprüchlich oder sogar selbst- destruktiv, weil er auf eine Haltung der Enthaltsamkeit gegenüber den Geltungs- ansprüchen derjenigen Überzeugungen verpflichte, die unmittelbar denjenigen Überzeugungen widersprächen, auf die sich die Haltung der Toleranz selbst grün- de – auf diese Weise unterminiere sich die Toleranzidee selbst. Diesem Einwand kann dadurch begegnet werden, dass verschiedene Reflexionsebenen, und damit verschiedene Arten normativer Überzeugungen unterschieden werden. So kann zwischen denjenigen Überzeugungen, zwischen denen ein vernünftigerweise nicht aufzulösender Dissens besteht, und solchen Überzeugungen unterschieden werden, die erläutern, weshalb die unaufgelöste, weil vielleicht unauflösbare Konkurrenz einer bestimmten Art von Überzeugungen überhaupt das norma- tive Prädikat ‚vernünftig‘ verdient. Die reflexive Einsicht in die (jedenfalls der- zeitige) Unauflösbarkeit bestimmter Streitfragen liegt nicht auf der Ebene der konfligierenden Überzeugungen selbst. – Wichtiger noch: Die Idee der Toleranz beruht fundamental auf der moralischen Idee der Gleichheit aller Träger konkur- rierender Überzeugungen. Allen Menschen kommt gleichermaßen ein „Recht auf Rechtfertigung“ (R. Forst) zu. Diese moralische Grundüberzeugung verpflichtet auf einen Grundsatz der kontextuell zu spezifizierenden Enthaltsamkeit, der es verbietet, anderen gegenüber Handlungen, die sie betreffen, durch Überzeugun- gen zu begründen, deren Rechtfertigung ausschließlich auf Gründen beruht, die nicht allen gleichermaßen zugänglich sind. Dem Selbstwidersprüchlichkeits- oder Selbstdestruktionseinwand gegen das Toleranzkonzept kann dadurch begegnet werden, dass gezeigt wird, dass die moralische Überzeugung über die Gleichheit der Träger der konkurrierenden weltanschaulich-religiösen Überzeugungen nicht auf dergleichen Ebene wie diese konkurrierenden Überzeugungen selbst liegt, sondern unabhängig von ihnen (Rawls: „freistehend“) begründet werden kann. (Was im übrigen nicht ausschließt, dass diese moralische Grundüberzeugung auch durch ‚umfassende‘, etwa religiöse Überzeugungen begründet werden kann. Die Toleranz kann selbst auch ausdrücklich religiös begründet werden. Die Widerlegung des Selbstwidersprüchlichkeitseinwand gegen das Toleranzkonzept erfordert nicht zu behaupten, dass die dem Toleranzkonzept zugrundeliegende moralische Grundüberzeugung nicht religiös begründet werden könnte, sie er- fordert allerdings darauf zu bestehen, dass diese Grundüberzeugung nicht zwin- gend religiös begründet werden muss.) Die Toleranzidee verpflichtet deshalb zur Enthaltsamkeit in bezug auf die Beurteilung einiger, aber nicht aller Arten von normativ gehaltvollen Überzeugungen. Worauf verpflichtet die Toleranz in bezug auf diejenigen eigenen Überzeugun- gen, die mit denen anderer konfligieren, ohne dass eine der konfligierenden Sei- ten als für jeden einsehbar falsch oder unvernünftig verstanden werden könnte? Insbesondere ist hier die Frage entscheidend, ob es das Konzept der Toleranz gebietet, im Falle des Konfligierens die eigenen Überzeugungen aufzugeben oder nicht mehr für wahr zu halten. 124 Das Toleranzkonzept bezieht sich auf die Erfahrung, dass es konkurrierende Überzeugungen gibt, die als gleichermaßen „vernünftig“ und subjektiv begrün- det verstanden werden können. Das Toleranzkonzept behauptet, dass zwischen der Vernünftigkeit und dem Begründetsein von Überzeugungen einerseits, der Frage nach der allgemeinen Akzeptabilität andererseits logisch-begrifflich unter- schieden werden kann. Das heißt, dass es ohne Widerspruch möglich ist, eine Überzeugung selbst für wahr und begründet zu halten und gleichwohl einzuse- hen, dass diese Überzeugung nicht für jeden gleichermaßen akzeptabel ist und deshalb etwa nicht zur Begründung einer alle betreffenden Gesetzgebung heran- gezogen werden kann. Das heißt umgekehrt, dass die Haltung der Toleranz nicht dazu zwingt, eigene Überzeugungen nicht mehr für begründet oder nicht mehr für wahr zu halten. Die Haltung der Toleranz verpflichtet nicht darauf, eigene (etwa religiöse) Überzeugungen, die nicht allgemein akzeptabel sind – weil sie mit anderen Überzeugungen konfligieren, die gleichermaßen nicht einfach irrati- onal sind – aufzugeben oder für unbegründet, irrational oder irrelevant zu halten. Die Pointe dieses Toleranzverständnisses wird vor folgendem Hintergrund deut- lich. Die Grundfrage der modern-liberalen Thematisierung des religiös-weltan- schaulichen Pluralismus lautet: Wie können Bürger mit unterschiedlichen religi- ös-weltanschaulichen Überzeugungen friedlich und in gegenseitigem Respekt zusammenleben, d.h. ohne sich gegenseitig ihre jeweiligen Überzeugungen ver- pflichtend machen zu wollen? Die eine, eher ‚säkularistische‘ Antwort, die in der politischen Theorie darauf ge- geben wurde, lautet: Das funktioniert nur dann, wenn die Religionen sich in einer bestimmten Weise „depotenzieren“, also ihre eigenen Wahrheitsansprüche auf- geben bzw. ihre Geltungsansprüche so (um-)interpretieren, dass diese gar nicht mehr miteinander konfligieren. Das würde heißen, ein dauerhafter und stabiler Pluralismus setzte eigentlich voraus, dass jede Religion aus sich eine Art spezi- fisch liberale, „kulturprotestantische“ Variante entwickelte. Religiöse Wahrheits- ansprüche und liberale Demokratie werden in dieser Perspektive als tendenziell unvereinbar betrachtet. (So haben etwa, mit entgegengesetzter Bewertung, Hans Kelsen und Carl Schmitt die These vertreten, die moderne Demokratie beruhe letztlich auf einer relativistischen bzw. immanentistischen Weltanschauung.) Ge- gen diese erste Antwort träten deshalb die Selbstwidersprüchlichkeitseinwände wieder auf den Plan, die oben diskutiert wurden: Die Anerkennung der Legitimi- tät des Pluralismus, die zur Toleranz gegenüber abweichenden Anschauungen verpflichtet, beruhte auf einer selbst gehaltvollen und mit anderen konkurrieren- den Weltanschauung. – Das oben vorgestellte Toleranzkonzept ist der Versuch, diese Antwort gerade zu vermeiden. Die zweite Antwort auf die Frage, wozu die Anerkennung des Pluralismus verpflichtet, besteht darin, zu erklären, dass und wie es möglich ist, dass sich etwa auch religiöse Bürger zur Legitimität des Plura- lismus affirmativ verhalten können, ohne dass sie dies dazu zwingen würde, die eigenen religiösen Wahrheitsansprüche aufzugeben. Die Affirmation einer libera- len politischen Ordnung wird auf diesem Wege auch einem „exklusivistischen“ re- ligiösen Selbstverständnis ermöglicht. Die normative Attraktivität dieser zweiten rührt augenscheinlich aus den Problemen der ersten Antwort, die nämlich von außen den Religionen inhaltlich die Ausbildung eines spezifischen Selbstverständ- nisses vorschreibt. Der Kreis derjenigen Lehren und Anschauungen, die als legi- time Teilnehmer am modernen Pluralismus akzeptiert werden, ist in diesem ers- ten Modell deshalb erheblich eingeschränkt. Gegen diese erste „säkularistische“ Antwort ließe sich deshalb tatsächlich der Vorwurf der Selbstwidersprüchlichkeit formulieren, da hier zur Bedingung der Toleranz eine Interpretation religiöser Gel- tungsansprüche gemacht wird, die selbst vernünftigerweise umstritten ist. – Der Prozess der Rationalisierung, als der sich die Modernisierung von Gesellschaften verstehen lässt, ist vor allem als Prozess der zunehmenden Differenzierung von Geltungsansprüchen beschrieben worden. Der moderne, nicht-paternalistische Begriff von Toleranz beruht auf der Differenzierung zwischen dem Anspruch, ei- gene Überzeugungen berechtigterweise für begründet und wahr halten zu kön- nen, und dem Anspruch, die allgemeine Akzeptabilität dieser Überzeugungen ausweisen zu können.
Das beschriebene, in einem allerdings spezifischen Sinn „liberal“ zu nennende Modell der Akzeptanz eines ‚vernünftigen‘ Pluralismus bedarf jedoch einiger er- gänzender Überlegungen, um dem Einwand zu begegnen, die Akzeptanz ab- gelehnter Überzeugungen sei nur durch Indifferenz zu erreichen. Dies stimmt, so wie dargestellt, im Hinblick auf die eigenen Überzeugungen nicht, aber es stimmt auch im Hinblick auf die abgelehnten Überzeugungen nicht. Die Feststel- lung, dass es in diesen Fällen nicht irrational ist, an den eigenen Überzeugungen festzuhalten, entbindet nicht von einer inhaltlichen Auseinandersetzung auch mit den abgelehnten Überzeugungen. Die Erfüllung des Kriteriums allgemeiner Akzeptabilität kann in demokratischen Gesellschaften nur im demokratischen Diskurs selbst festgestellt werden. – Die Toleranz ersetzt nicht die hermeneuti- sche Anstrengung des Verstehens des anderen, sondern setzt sie vielmehr gerade voraus. Toleranz setzt voraus, dass die abgelehnten Überzeugungen jedenfalls insoweit verständlich geworden sind, als dass sich das Konfligieren der Über- zeugungen überhaupt feststellen lässt. Toleranz ist dann dort erforderlich, wo die Einsicht in Gründe nicht zu einem Teilen der Gründe, das Verstehen nicht zu einem Einverständnis führt. Jürgen Habermas hat in seinen neueren Schriften auf zwei wichtige Ergänzun- gen in bezug auf das liberale Koexistenz-Modell des Pluralismus hingewiesen. die sich aus diesen Überlegungen ergeben. Erstens besteht so etwas wie eine wechselseitige Verpflichtung der Bürger gegeneinander, sich Artikulationshilfe zu leisten, wenn bestimmte Überzeugungen in den öffentlichen Diskurs eingebracht werden. Das hat seinen Grund zum einen in der Verpflichtung zur Inklusion aller Bürger in den demokratischen Diskurs. Zum anderen aber, und das ist der darüber hinaus gehende zweite Ergänzungspunkt, gibt es ein Interesse der Gesellschaft im ganzen am Einbezug möglichst vieler, und insbesondere auch religiöser Über- zeugungen, da die Gesellschaft selbst andernfalls „von möglichen Ressourcen der Sinnstiftung abgeschnitten“ würde (Habermas). Gleichwohl gilt im Hinblick auf diese Überzeugungen, dass in bezug auf die Begründung politischer Maßnahmen eine Enthaltsamkeitspflicht weiterhin solange besteht, solange keine „Überset- zung“ in eine allen Bürgern gleichermaßen zugängliche Sprache gelungen ist. Ins- besondere in bioethischen Debatten hat sich gezeigt, dass es Fälle gibt, in denen säkulare und andersgläubige Bürger in religiösen Beiträgen „eigene, manchmal verschüttete Intuitionen wiedererkennen“ (Habermas). So darf nicht vergessen werden, dass die Möglichkeit besteht, dass sich Überzeugungen auch entparti- kularisieren lassen, wenn nämlich Rechtfertigungen und sie stützende Argumen- te für diese Überzeugungen gefunden werden, die unabhängig von derjenigen „umfassenden Lehre“ verständlich und akzeptabel sind, in deren Kontext diese Überzeugungen ursprünglich gebildet worden sind. Literatur: Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie (1920/21) Rainer Forst, Toleranz im Konflikt (2003) Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion (2005) John Rawls, Politischer Liberalismus (1993) Carl Schmitt, Politische Theologie (1922)
Der Anstieg der Informationsflut droht die Kulturen soliden Wissens zu über- spülen. Bildung hingegen schwimmt nicht mit, sondern sucht das Ufer. Nur der Stand auf festem Grund und Boden gestattet, mit Urteil, Augenmaß und guten Gründen auszuwählen und abzuwägen. Nur Bildung hilft uns, im mare magnum des Wissbaren das Wissenswerte nicht zu verfehlen. Nicht zuletzt lehrt sie uns zu wissen,was wir getrost übersehen dürfen. So erwerben wir uns Gelassenheit und gewinnen die Ruhe, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren. Je mehr die Informationen ausufern, desto mehr bedarf es der Bildung, die Deiche aufwirft und Kanäle zieht. Die „Spaß-“ und „Multioptionsgesellschaft“ wirbt mit der Devise, alles sei mög- lich, alles zu haben – übrigens auch die Bildung. Wer aber nur Bildungsbrocken schluckt, ist noch lange nicht gebildet! So wenig wie eine Katze, die einen Kana- rienvogel gefressen hat, schon singen kann. Alles, was nur zu drei Vierteln ver- standen ist, „verschmilzt nicht mit der Person des Lernenden, sondern bleibt ein umgehängter Mantel ohne wirklichen Bildungswert“ (Ludwig Reiners). Das Mehr an Möglichkeiten macht vorerst nur fahrig und nicht schon reicher. Nicht die Fülle erfüllt, sondern die Kraft, sich das Zuträgliche anzueignen und das Förderliche festzuhalten. Auch hier gilt: Wer viel haben kann, muss viel wählen. Doch die Fähigkeit zu wählen – das Echte vom Trug, Wertvolles vom Billigem, das Gediegene vom Läppischen, Berechtigtes von Beliebigem zu unterscheiden – kann niemand einfach haben, sie muss erworben werden. Je mehr Möglichkeiten wuchern, des- to mehr bedarf es der Bildung, die Form und Fassung findet und wachsen lässt. Der Mensch ist das Wesen, das nicht einfach lebt, sondern sein Leben führt. Dafür bedarf er der maßgebenden Bilder und weither überlieferten Vor-Bilder, es bedarf geprüfter Gedanken und verbürgter Vorstellungen, die ein Ziel setzen und in Anspruch nehmen. Nur was uns fordert, bewegt uns auch. Und nur ein selbst- bestimmtes Leben, „das zu denken gibt“ (Rüdiger Safranski), vermag seinerseits vorbildlich zu sein. Bildung bringt auf den Weg dorthin. Echte Bildung ist immer „Erfüllung und Antrieb zugleich, ist überall am Ziele und bleibt doch nirgends rasten, ist ein Unterwegssein im Unendlichen, ein Mitschwingen im Universum, ein Mitleben im Zeitlosen“ (Hermann Hesse). Nicht zuletzt wird auf diesem Wege Widerstandsfähigkeit erworben gegenüber den trivialen Verführungen durch Mode und Werbung und den allgegenwärti- gen Denkzwängen, die von den Meinungsmedien ausgehen. Denn Bildung ist vor allem auch dies: Arbeit an sich selber. Nicht was einer hat, kann, weiß oder vorstellt, ist die Sache, um die es geht, sondern die Frage der Bildung ist, wer einer ist. So ist, wer sich bildet, tätig, aus sich selbst das Beste zu machen. Er verkümmert nicht in der Einfalt seiner Interessen, er entwickelt sie zur Vielfalt. Er gewinnt Umfang, Übersicht und Hintergrund. Im besten Falle findet er zu dem Schwergewicht, das uns – wie der Kiel das Boot – aufrecht gehen lässt. Bildung ist die Antwort auf die Frage, worauf es eigentlich ankommt, was wahrhaft zählt und letztlich bleibt, was Bestand, Geltung und Gültigkeit hat. Sie befreit aus Beliebigkeit, Belanglosigkeit, Flüchtigkeit, aus dem bloßen Ablauf des Lebens. Schule und Massenuniversität stehen derzeit in der Versuchung, ihren Bildungs- auftrag als Ballast abzuwerfen, um als Ausbildungsstätten auf Touren zu kom- men. Die Routen schreibt das ökonomische Kalkül vor: Nicht, was der Mensch braucht, sondern welche Sorte Mensch gebraucht wird, ist hier das Kriterium. Der Mensch wird fit gemacht für den Betrieb, Ausbildung ist Brauchbarmachung, Zurichtung zur geldwerten Verwendbarkeit. Ausbildung aber ergänzt Bildung al- lenfalls, vermag sie jedoch nie zu ersetzen. Der Auftrag der Wissenschaft hieß einmal, zutage zu bringen; inzwischen hat sie die ganze Welt ins kalte Licht des Labors getaucht, und unter den Menschen des wissenschaftlichen Betriebes sind wenige, die innen hell wurden. Der Fortschritt der Wissenschaften hat die große in kleine Welten zerlegt, in denen sich allenfalls arbeiten, aber nicht leben lässt. Denn der Mensch lebt im Haus der Sprache, dort, wo er verstanden wird, wenn er spricht, und versteht, was gesprochen wird. Doch wo die Wissenschaften ihre Türme bauen, zerfällt die Sprache ins babyloni- sche Gewirr spezialisierter Idiome. Bildung hingegen – eigentlich eine Art Heim- weh, die Sehnsucht, überall zu Hause zu sein – haust nicht in Fächern, sie sucht ihre Heimat unter Menschen, die Menschen verstehen und sich als Verstehende untereinander verständigen.
Der Anstieg der Informationsflut droht die Kulturen soliden Wissens zu über- spülen. Bildung hingegen schwimmt nicht mit, sondern sucht das Ufer. Nur der Stand auf festem Grund und Boden gestattet, mit Urteil, Augenmaß und guten Gründen auszuwählen und abzuwägen. Nur Bildung hilft uns, im mare magnum des Wissbaren das Wissenswerte nicht zu verfehlen. Nicht zuletzt lehrt sie uns zu wissen,was wir getrost übersehen dürfen. So erwerben wir uns Gelassenheit und gewinnen die Ruhe, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren. Je mehr die Informationen ausufern, desto mehr bedarf es der Bildung, die Deiche aufwirft und Kanäle zieht. Die „Spaß-“ und „Multioptionsgesellschaft“ wirbt mit der Devise, alles sei mög- lich, alles zu haben – übrigens auch die Bildung. Wer aber nur Bildungsbrocken schluckt, ist noch lange nicht gebildet! So wenig wie eine Katze, die einen Kana- rienvogel gefressen hat, schon singen kann. Alles, was nur zu drei Vierteln ver- standen ist, „verschmilzt nicht mit der Person des Lernenden, sondern bleibt ein umgehängter Mantel ohne wirklichen Bildungswert“ (Ludwig Reiners). Das Mehr an Möglichkeiten macht vorerst nur fahrig und nicht schon reicher. Nicht die Fülle erfüllt, sondern die Kraft, sich das Zuträgliche anzueignen und das Förderliche festzuhalten. Auch hier gilt: Wer viel haben kann, muss viel wählen. Doch die Fähigkeit zu wählen – das Echte vom Trug, Wertvolles vom Billigem, das Gediegene vom Läppischen, Berechtigtes von Beliebigem zu unterscheiden – kann niemand einfach haben, sie muss erworben werden. Je mehr Möglichkeiten wuchern, des- to mehr bedarf es der Bildung, die Form und Fassung findet und wachsen lässt. Der Mensch ist das Wesen, das nicht einfach lebt, sondern sein Leben führt. Dafür bedarf er der maßgebenden Bilder und weither überlieferten Vor-Bilder, es bedarf geprüfter Gedanken und verbürgter Vorstellungen, die ein Ziel setzen und in Anspruch nehmen. Nur was uns fordert, bewegt uns auch. Und nur ein selbst- bestimmtes Leben, „das zu denken gibt“ (Rüdiger Safranski), vermag seinerseits vorbildlich zu sein. Bildung bringt auf den Weg dorthin. Echte Bildung ist immer „Erfüllung und Antrieb zugleich, ist überall am Ziele und bleibt doch nirgends rasten, ist ein Unterwegssein im Unendlichen, ein Mitschwingen im Universum, ein Mitleben im Zeitlosen“ (Hermann Hesse). Nicht zuletzt wird auf diesem Wege Widerstandsfähigkeit erworben gegenüber den trivialen Verführungen durch Mode und Werbung und den allgegenwärti- gen Denkzwängen, die von den Meinungsmedien ausgehen. Denn Bildung ist vor allem auch dies: Arbeit an sich selber. Nicht was einer hat, kann, weiß oder vorstellt, ist die Sache, um die es geht, sondern die Frage der Bildung ist, wer einer ist. So ist, wer sich bildet, tätig, aus sich selbst das Beste zu machen. Er verkümmert nicht in der Einfalt seiner Interessen, er entwickelt sie zur Vielfalt. Er gewinnt Umfang, Übersicht und Hintergrund. Im besten Falle findet er zu dem Schwergewicht, das uns – wie der Kiel das Boot – aufrecht gehen lässt. Bildung ist die Antwort auf die Frage, worauf es eigentlich ankommt, was wahrhaft zählt und letztlich bleibt, was Bestand, Geltung und Gültigkeit hat. Sie befreit aus Beliebigkeit, Belanglosigkeit, Flüchtigkeit, aus dem bloßen Ablauf des Lebens. Schule und Massenuniversität stehen derzeit in der Versuchung, ihren Bildungs- auftrag als Ballast abzuwerfen, um als Ausbildungsstätten auf Touren zu kom- men. Die Routen schreibt das ökonomische Kalkül vor: Nicht, was der Mensch braucht, sondern welche Sorte Mensch gebraucht wird, ist hier das Kriterium. Der Mensch wird fit gemacht für den Betrieb, Ausbildung ist Brauchbarmachung, Zurichtung zur geldwerten Verwendbarkeit. Ausbildung aber ergänzt Bildung al- lenfalls, vermag sie jedoch nie zu ersetzen. Der Auftrag der Wissenschaft hieß einmal, zutage zu bringen; inzwischen hat sie die ganze Welt ins kalte Licht des Labors getaucht, und unter den Menschen des wissenschaftlichen Betriebes sind wenige, die innen hell wurden. Der Fortschritt der Wissenschaften hat die große in kleine Welten zerlegt, in denen sich allenfalls arbeiten, aber nicht leben lässt. Denn der Mensch lebt im Haus der Sprache, dort, wo er verstanden wird, wenn er spricht, und versteht, was gesprochen wird. Doch wo die Wissenschaften ihre Türme bauen, zerfällt die Sprache ins babyloni- sche Gewirr spezialisierter Idiome. Bildung hingegen – eigentlich eine Art Heim- weh, die Sehnsucht, überall zu Hause zu sein – haust nicht in Fächern, sie sucht ihre Heimat unter Menschen, die Menschen verstehen und sich als Verstehende untereinander verständigen.
Bildungsanstrengungen sind daher immer auch Investitionen in den Erhalt der gesellschaftlichen Gesprächs- und Handlungsfähigkeit, die verloren geht, wenn die Welt hinter den Bildern der Welt verschwindet. Tschuang Tse, einer jener fernen Vertrauten aus dem Reich der Mitte und der Weisheit, sagt uns: „Willst Du für ein Jahr voraus planen, so baue Reis. Willst Du für ein Jahrzehnt vorausplanen, so pflanze Bäume. Willst Du für ein Jahrhundert planen, so bilde Menschen.“ Vor 115 Jahren, im Oktober 1901, erschien das erste Vorlesungsverzeichnis der Lessing Hochschule. Sehen wir uns um, nach 115 Jahren: Auch wir sind, und wir sind auch das (Zwischen-)Ergebnis dieser 115jährigen Bildungsaussaat! Gerade wenn wir nicht mit allem und jedem in uns und um uns zufrieden sind, sollten wir bedenken, dass Zukunftsinvestitionen sich immer erst in der Zukunft loh- nen! Werner Remmers hat als niedersächsischer Kultusminister einmal formuliert, man müsse, was die Bildungspolitiker pflanzen, in Ruhe – eben wie eine Pflanze – wachsen lassen. „Wir dürfen sie nicht alle vierzehn Tage ausbuddeln, um zu sehen, welche Wurzeln sie geschlagen hat.“ Ein wenig von diesem unaufgeregten Zukunftsvertrauen wünschten wir uns auch von jenen Berliner Bildungspolitikern, die nach dem vielleicht allzu kurzschlüssi- gem Entzug der Förderung für die Lessing Hochschule im vergangenen Jahrzehnt über künftige Unterstützungsmöglichkeiten für diese Hochschule werden neu zu befinden haben. Was weiß das Hauptstadt-Berlin der noch jungen Berliner Republik noch um das einstige Kultur- und Bildungsjuwel in den eigenen Mauern? Um jenes „Berliner Bildungsharvard“ (Joachim Kreutzkam), an dem alles gelehrt, gedacht und ge- wirkt hat, was in den 20er und frühen 30er Jahren in deutscher Sprache und Kultur Rang und Namen hatte: Albert Einstein, Max Scheler, C.G.Jung, Alfred Adler, die Brüder Thomas und Heinrich Mann, George Bernard Shaw, Hermann Hesse, Paul Löbe, Gustav Stresemann, Walter Rathenau und Theodor Heuss, Lise Meitner und Helene Stöcker, Erwin Schrödinger und Max von Laue, Georg Simmel und Werner Sombart, Romano Guardini und Paul Tillich, Ernst Troelsch, Gustav Radbruch und Carl Heinrich Becker, aber auch Fritz Lang und Gustav Gründgens, Stefan Zweig, Carl Zuckmayer, Max Reinhardt, Fritz Kortner, Wilhelm Furtwäng- ler, Alfred Kerr und viele, viele andere mehr! Wenn wir Namen aufzählen – unter ihnen nicht weniger als acht Nobelpreis- träger! – , dann werden wir uns angesichts der Fülle jener, deren zu gedenken wäre und die zu erwähnen sind, geradezu unvermeidlich rügbarer Unterlassun- gen schuldig machen. 108 Ein Name allerdings darf in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben: der Name (und das Werk) jenes Mannes, ohne dessen Wirken für diese Hochschule wir wohl keinen Anlass hätten, einer großen Vergangenheit zu gedenken und an einer hoffentlich ebenso bedeutsamen Zukunft zu bauen. Ich spreche von jenem legendären Direktor dieser Einrichtung, Ludwig Lewin, der die Lessing Hochschu- le 1914, im Alter von 27 Jahren, übernahm und im Frühjahr 1933 von den Nazis aus seinem Amt vertrieben wurde. In den 60er Jahren, nach ihrer Wiederbegrün- dung durch Willy Brandt in den Jahren zwischen 1965 und 1967, stand Ludwig Lewin noch einmal – bis zu seinem Tod 1967 – an der Spitze dieser Einrichtung und versuchte an die großen Leistungen der Vergangenheit anzuschließen. Wir werden Ludwig Lewin – dem ab 1914 das Aufblühen der Lessing Hochschule und 1965 bis 1967 auch ihre Wiederbelebung zu danken sind – in einer eigenen Ver- anstaltung im Rahmen unserer geplanten Ringvorlesung zu den großen Lehrern der Lessing Hochschule gedenken. Die Philosophische Fakultät der Freien Universität Berlin führt in ihrer Laudatio zur Verleihung der Ehrendoktorwürde an Ludwig Lewin im November 1967 aus: Diese Ehrung ist „Dr. Ludwig Lewin (gewidmet), dem bedeutenden Mittler zwi- schen Wissenschaft und Bildung, dem es in den Jahren zwischen 1914 und 1933 gelungen ist, die Berliner Lessing Hochschule zu einem geistigen Mittelpunkt Berlins zu entwickeln, der in ihrem Kreis sowohl großen Gelehrten Berlins und der gesamten deutschsprachigen Welt wie führenden Politikern seiner Zeit ein Forum öffentlicher Wirkung gegeben hat“. Von Anfang an so ehrgeizig wie zielbewusst und konsequent versuchte Ludwig Lewin die Lessing Hochschule als „Podium der Eliten“ aus Wissenschaft, Philo- sophie, Kunst, Wirtschaft, Religion und Politik zu etablieren. Der Plan ging auf: schon bald wurde die neue Einrichtung zum Treffpunkt der damals maßgeblichen Geister. Max Liebermann unterrichtete Aquarellmalerei, Tilla Durieux und Mary Wigman lehrten Schauspiel und Tanz, Wilhelm Furtwängler und Hans Pfitzner boten Kurse in Kompositionslehre an, der Mathematiker und Schachweltmeister Emanuel Lasker dozierte über „Strategie im Krieg, im Spiel und in der Liebe“, die Nobelpreisträger Max von Laue (Chemie) und Erwin Schrödinger (Mathematik) schätzten die Bühne der Lessing Hochschule als Experimentierfeld für neue na- turwissenschaftliche Denkansätze. Albert Einstein formulierte 1928 auf einer seiner Berliner Werbereisen zugunsten der Lessing Hochschule (die sich, damals wie heute, ohne nennenswerte finan- zielle Unterstützung von öffentlicher und privater Seite in höchst prekärer Situ- ation befand): „Wenn es diese Einrichtung nicht schon gäbe, müsste man sie schleunigst erfinden“; und der Philosoph Max Scheler, neben George Bernard Shaw einer der ersten großen Präsidenten der Lessing Hochschule, erklärte, in großer Übereinstimmung mit Ludwig Lewin, zum Ziel dieser – von ihm schon so genannten – „Bildungsuniversität“: Es gelte, „die großen Synthetiker der Epoche zu versammeln und ihnen eine Bühne zu geben. Überhaupt müsse man den Typ des „Zusammenhangswissenschaftlers“ und Generalisten fördern. Spezialisten, die uns die Welt in immer kleinere Bestandteile zerlegten, gäbe es schon genug! Der so unermüdlichen wie einfallsreichen Umtriebigkeit Ludwig Lewins ist es zu danken, dass sich die neue Einrichtung schon bald zu einem geistigen, kulturellen und politischen Zentrum entwickelte, von dem vielfältige Anregungen und Wir- kungen jenseits enger Fächergrenzen ausgingen. Mit anderen Worten: Er hatte das Wunder vollbracht, am Vorabend des Dritten Reiches, mitten im politisch und ideologisch zerrissenen Berlin, eine Oase der Nachdenklichkeit und Toleranz zu begründen, in der, jenseits staatlich verwalteter Wissensarbeit und -vermittlung und unabhängig von kirchlicher und parteipolitischer Patronage, die drängenden Fragen der Gegenwart bedacht und Möglichkeiten zukünftiger Lösung erörtert werden konnten. „Durch die Verbindung von wissenschaftlicher Lehre, politi- scher Reflexion und künstlerischer Realisation in einer Institution (wurde) das geistige Leben der 20er Jahre zugleich repräsentativ dargestellt und verantwort- lich mitgestaltet.“(Willy Brandt, 1967) Etwas Vergleichbares könnte und sollte vielleicht die Lessing Hochschule dieser Tage wieder gelingen: ein Forum der vielgestaltiger gewordenen „Berliner Repu- blik“ zu sein, Ansprechpartner für Politiker und politisch Interessierte, für Junge und Alte, Bewahrer und Innovatoren, ein Forum, auf dem es immer wieder auch zu bemerkenswerten Denk- und Debattenzwischenfällen kommt. Die Geschichte der Lessing Hochschule ist nicht nur ein Stück Berliner Bildungsgeschichte, sie ist ein Dokument der Geistesgeschichte der Weimarer Republik, und sie wird, das wünschen wir der Jubilarin im 115. Jahr ihres Bestehens und im 50. Jahr ihrer Wiederbegründung, sich mit kraftvoller Handschrift in die Annalen der Berliner Republik einschreiben! Anzumerken bleibt: Ludwig Lewin selbst wurde nicht müde, daran zu erinnern, dass der Name Lessing kein Zufallsprodukt war, sondern Programm. Religions- wissenschaftliche und religionsgeschichtliche Grundsatzfragen, zumal der Pro- blemkreis religiös motivierter Gewalt und die spiegelbildliche Suche nach religi- öser Toleranz und Überwindung der Gegensätze gehörten von Anfang an zum Kernbestand der Themen und Debatten an der Lessing Hochschule. An diese Tra- ditionslinie schließen nicht zuletzt auch aktuelle Bemühungen an, an dieser Ein- richtung – gerade auch unter dem Eindruck der jüngsten Migrations- und Flücht- lingserfahrung – ein eigenes „Zentrum für Toleranzforschung“ zu etablieren. Die Gründer und Förderer der Lessing Hochschule hatten ein hellsichtiges Auge für die gänzlich vorbildlosen Bedürfnisse lebenslangen Lernens und Sich-Fort- bildens in einer „immer schneller werdenden Zivilisation“. Es ging ihnen damals (und geht uns heute!) nicht nur um die Befriedigung individueller Bildungswün- 111 sche, nicht nur um akademische Bildungsauffrischung einer gesellschaftlichen Eli- te. So wichtig und legitim die individuelle Bereicherung und das „Bildungsglück“ des einzelnen gewiss auch sind – noch wichtiger ist das „soziale Kapital“, welches sich durch Begriff und Sache der „Erwachsenenbildung“ und des „lebenslangen Lernens“ erschließt

Albert Einstein

schrieb unter dem 22. Juli 1928: „Ich versage mich auch sonst nicht, wenn es sich darum handelt, für Bildungseinrichtungen einzutreten, aber gerade der Lessing Hochschule gegenüber, deren Wirksamkeit mir seit langem bekannt ist, möchte ich besonders ausdrücken, für wie wertvoll und im höchsten Sinne gemeinnützig ich diese Einrichtung halte. Die Existenz der Lessing Hoch schule ist nach meiner Überzeugung schon darum von hoher Wichtigkeit, weil bei uns entschieden zu wenig getan wird, um die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung auch den nicht im Fach Stehenden zugänglich zu machen. Die Lessing Hochschule hat dieser Aufgabe seit vielen Jahren mit hohem Verantwortungsgefühl gedient, wie ja durch ihre Stellung im Bildungsleben und in der Öffentlichkeit allgemein anerkannt ist, und es erscheint mir als eine selbstverständliche Pflicht der Allgemeinheit, die Entwicklung dieses Institutes zu sichern und zu fördern.“

Willy Brandt

„Wir wissen alle, dass sich aus der zunehmenden Lebenserwartung neue gesellschaftliche Notwendigkeiten ergeben. Wir wissen außer dem, dass uns die Altersstruktur hier in Berlin vor besondere Aufgaben stellt (…). Berlin wird wieder etwas reicher dadurch, dass es diese Bildungshochschule wieder gibt.“

Willy Brandt bei der Neugründung der Lessing Hochschule am 26. Februar 1965

Hellmut Becker

„Deutschland ist nicht arm an bedeutenden Wissenschaftlern gewesen, aber es hat nicht sehr viele Persönlichkeiten besessen, die die Verbreitung von Wissenschaft auf qualitativ hohem Niveau so sehr zu ihrem Lebensziel gemacht haben wie Ludwig Lewin. Dieser hochgebildete Mann hat dieses Werk in Gemeinschaft mit seiner polnischen Frau Lola, geborene Heller, vollbracht, die trotz aller tragischen Erfahrungen auch den Rückweg nach Berlin wieder mit ihm gegangen ist. Noch einmal gelang es diesen beiden Menschen, das geistige Berlin für die Vermittlung von Wissenschaft und Kunst an breitere Schichten zu interessieren.“

Hellmut Becker, Direktor des Max-Planck-Institutes für Bildungsforschung, im  Nachruf auf Dr. Dr.h.c. Lewin aus dem November 1967

Der wahre Zweck des Menschen – nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen

Wilhelm von Humboldt
( 1767 – 1835 )

Ansprache an die Zukunft

Unserem Bildungswesen fehlen in der Tat Einrichtungen auf Universitätsniveau, die ,,unabhängig von Hochschulen“ oder wenn doch ,,nur in losem Verbande mit diesen“, eine ganzheitlich, synthetische Bildung anstreben und ein dialogisches und interaktives wissenschaftliches Studium jenseits von Fächergrenzen anbieten und pflegen.

 

Ein solches, die Vielfalt, Dezentralität und Humanität des Denkens und Handelns erst ermöglichendes Bildungsangebot ist um so wichtiger, je einseitiger Produktion und Verwertung von möglichst patentierbaren Wissensgütern in der Entwicklung des allgemeinen Hochschulwesens betont und belohnt werden.

 

Unser Bildungswesen selbst muß dringend auf den Prüfstand öffentlicher Diskurse. Bildung ist kein privates Gut. Sie wird es auch dadurch nicht, wenn sie privat finanziert und organisiert wird. Das Schicksal des Bildungswesens betrifft uns Alle.

 

Die Lessing Hochschule versteht sich als ein öffentliches Forum, das mehr und mehr von der privaten Initiative wacher, verantwortungsbewusster und höchstgebildeter Bürgerinnen und Bürger getragen wird, die das Ihre dazutun, den Druck der Öffentlichkeit groß genug werden zu lassen, um auch die Politik beim Umsteuern im Bildungswesen angemessen ,,einzubeziehen“.

 

Prof. Dr. Bernd Guggenberger

Rektor der Lessing Hochschule zu Berlin.

Credo der Lessing Hochschule zu Berlin

Gemeinsames Lernen — genauer formuliert: gemeinsames lebenslanges Lernen — in komplexen wissenschaftlichen und moralischen Fragen, ist das Gebot der Stunde. Dieser Thematik fühlt sich die Lessing Hochschule zu Berlin verpflichtet. Sie ist ein ganz besonderer Ort für ein solches gemeinsames Lernen, ein Ort der höchsten Bildung, will sagen: ein Ort des gemeinsamen und unabhängigen, wissenschaftlich gestützten und ethisch reflektierenden Lernens angesichts komplexer Herausforderungen in Kultur, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft.

 

In der Lessing Hochschule sollen sich vor allem jene engagierten Persönlichkeiten begegnen, die sich in besonderer Weise um das Wohl und Wehe des Gemeinwesens sorgen und die wissen, dass ihre eigene Entwicklung und ihre Erfolge sowie die Entwicklung und Erfolge des Gemeinwesens in Kreislaufprozessen langfristig miteinander verbunden sind, die sich im überschaubaren kommunalen Umfeld ebenso beratend und meinungsbildend einsetzen, wie sie sich — über geeignete Medien — in über- und internationale Reformdiskussionen einschalten, die sich persönlich vor allem für Reformen und Weiterentwicklungen in Kultur, Wirtschaft und Politik einsetzen (möchten).  Persönlichkeiten, die bereit sind, sogar eigene Ressourcen, Zeit und Geld bereitzustellen, wenn sie eine geeignete Plattform, wie die Lessing Hochschule  sie bietet, finden, um den öffentlichen Dialog beispielsweise über das Gesundheitssystem, das Bildungssystem oder den Arbeitsmarkt so stark mitzubeeinflussen, dass sich die einsichtigen und reformwilligen Politiker getrauen Althergebrachtes gegen Reformbeschlüsse zu verwerfen und dabei mit Mehrheiten in den Parlamenten rechnen können.

 

Den starken, die politische Meinungsbildung dominierenden Interessengruppen fehlen auch heute noch die in ihrer Wirkung auf die Politik gleich starken oder noch stärkeren breiten öffentlichen Diskurse, in die sie sich mit ihren Argumenten hineinzubegeben haben. Erst die kritischen und kreativen Auseinandersetzungen zwischen den Vertretern von legitimen Partikularinteressen einerseits und den in anspruchsvollen öffentlichen Meinungsbildungsprozessen zum Ausdruck kommenden Haltungen und Zielvorstellungen des Gemeinwesens andererseits, lassen hoffen, dass tragfähige Konsensbildungen in der Bewältigung auch sehr komplexer Fragen, wie bei den beispielhaft genannten Aspekten, in Zukunft möglich und immer wahrscheinlicher werden.

 

Unsere Zukunft — im lokalen, regionalen und globalen Kontext — wird wesentlich davon abhängen, dass sich Plattformen und Foren, wie sie die Lessing Hochschule seit 1901 anbietet, für intelligente und glaubwürdige öffentliche Diskurse bilden können.

 

Prof. Dr. Bernd Guggenberger

Rektor der Lessing Hochschule zu Berlin

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