Waren es vor 20 Jahren noch 5000 bis 6000 Bits, die pro Sekunde von herkömm-
lichen Rechnern verarbeitet und netztechnisch übermittelt wurden, so wurden
uns mit dem „Internet 2.0“ bereits Verarbeitungszeiten versprochen, die es ge-
statten, pro Sekunde die Informationskapazität der dreißig Bände der Encyclo-
paedia Britannica zu bewältigen. Und dies wird nicht der Endpunkt sein: Scherz-
bolde basteln bereits an einer neuen Informationseinheit, dem LOC: „Library of
Congress per Second“. Die Library of Congress ist mit ihren rund 40 Millionen
Bänden die größte Bibliothek der Welt.
Wer kann noch brauchen, was alles schon zu haben ist? Nichts ist künftig wohl
wichtiger, als zu wissen, was ich alles nicht brauche, was ich alles nicht gese-
hen, nicht gehört und nicht zur Kenntnis genommen haben muss – ohne darob
in panische „Informationsangst“ zu verfallen. Man könnte diese ebenso seltene
wie unverzichtbare Verhaltenstugend der souveränen Nichtwisserschaft „positive
Ignoranz“ nennen. Bildung im 21. Jahrhundert hat vor allem eines zu leisten: die
verlässliche, quasi instinktsichere Abwehr überzähliger Informationen.
Zivilisation wird Zuvielisation. Wer Bilder liebt und Gleichnisse, dem ist für die
zeitgenössischen Verlegenheiten in der informationellen Zuvielisationsgesell-
schaft in Gestalt der antiken Midas-Sage ein drastisches Menetekel zuhanden:
König Midas, dem sich wunschgemäß alles, was er mit seinem Körper berührte,
unverzüglich in Gold verwandelte, musste nach kürzester Zeit schon, unermess-
lich reich an Schätzen, Hungers sterben.
Wem alles bekannt ist oder werden soll, wird das, was mir bekannt wird, gren-
zenlos beliebig. Der Kern dieses „Alles-und-jederzeit“, von dem alle Welt gegen-
wärtig so undifferenziert wie ausdauernd schwärmt, ist die Ersetzung des Wis-
senswerten durch das Wissbare. Damit entfällt das entscheidende Filtersystem
und zusammen mit ihm auch die Grenzlinie zwischen der Information als Segen
und der Information als Fluch. In Wahrheit ist der größte Feind der Information
die Informationsüberflutung; denn es ist die Knappheit, die ein Gut kreiert, und
es ist der Überfluss, der es ruiniert. Das ist es, was der Information in der In
formationsgesellschaft widerfährt: sie wird durch ihre grenzenlose Beliebigkeit
entwertet.
Ist es also das, was uns droht: dass wir über Alles alles wissen und doch nichts,
was wir brauchen können, um uns Ziele zu setzen und das Leben zu gestalten?
Dass uns,“overnewsed and underinformed“, übervoll mit Allerweltsfakten, Da-
tenschrott und Informationsmüll, der Orientierungstod der normativen Auszeh-
rung ereilt? Dass wir alles anklicken können und abrufen, jedoch nichts erfahren,
was uns hilft, unsere Orientierungsnöte zu lindern: den Hunger nach Sinn, den
Durst nach Erkenntnis zu stillen, das Bedürfnis nach Anerkennung und Zugehö-
rigkeit zu befriedigen? Dass wir unter den aufgehäuften Bergen von nutzlosem
Wissen das Existenzwissen verschütten, so dass wir am Ende über alles Auskunft
geben können, nur nicht mehr darüber, was wir eigentlich wollen und was für
uns und andere gut ist und was nicht?
Erst Bildung ermöglicht die unabdingliche Selektionsleistung und die begründete
Auswahl, welche das Wissbare auf das Wissenwerte reduziert. In unüberbietba-
rer Eindringlichkeit die Not unserer Zeit und zugleich ihre Therapie benennend,
formulierte Hartmut von Hentig: „Die Antwort auf unsere behauptete oder tat-
sächliche Orientierungskrise ist Bildung – nicht Wissenschaft, nicht Information,
nicht moralische Aufrüstung, nicht der Ordnungsstaat, nicht ein Mehr an Selbst-
erfahrung und Gruppendynamik, nicht die angestrengte Suche nach Identität.“
Längst gibt es so etwas wie den Terror der Sachen: Wer viel hat, hat immer auch
viel abzustauben! Und zum Terror der Sachen gesellt sich der Terror der Daten: Wer
alles wissen kann, muss sich pausenlos mühen, zu wissen, was er wissen muss!
Nur Bildung lehrt uns, zuverlässig zu wissen, was wir nicht zu wissen brauchen.
Innere und äußere Gelassenheit zu den Dingen verdanken sich jener positiven
Ignoranz und zielgeführten Wahrnehmungsverweigerung, zu denen allein Bil-
dung befähigt. Gebildete Einsicht vermag, echt und falsch, wertvoll und billig,
wichtig und zweitwichtig zu unterscheiden. Sie ist ein machtvolles Bollwerk
wider Beliebigkeit.
Das knappe Gut der Informationsgesellschaft ist nicht die Information, es ist die
selektive Aufmerksamkeit. Für mich ist immer noch der beste Selektionsfilter, also
die beste Voraussetzung, mit Computer und Internet vernünftig umzugehen, die
Software einer soliden humanistischen Bildung.
Man kann es gar nicht überpointieren: Informationen sind, im Übermaß vorhan-
den, weitgehend wertlose Ausgangsrohstoffe – etwa so, wie die über ein weites
Gelände verstreuten Steinbrocken, die ihren – zunächst abstrakten – Wert nur
durch das Wissen um die Möglichkeit gewinnen, Steine zu einer Mauer oder einer
Wand zu türmen; und erst der Bauplan für ein konkretes Steingebäude transfor-
miert sie in einen wirklichen Wert, macht aus einer beliebigen Ausgangssubstanz
begehrtes Baumaterial.
Ohne strukturiertes Wissen und ohne Bildung sind Informationen wertlose Ge-
steinsbrocken, hinderlich, wo nicht gefährlich. Wissen stiftet einen Zusammen-
hang zwischen des disparaten Dingen; und die Fähigkeit, Wissen auf neue Be-
dürfnisse und Probleme zu beziehen, Bildung also, ermöglicht Selektion.
Ein sozial bekömmlicher und kulturell folgenreicher Umgang mit Informationen
erfordert, über den bloßen Datenkonsum hinaus, ein Doppeltes: erstens, wo In-
formation ist, muss Wissen werden, welches das Informationschaos strukturiert;
zweitens, um Wissen zu nutzen, bedarf es der gesicherten, geklärten Erfahrung
und der Urteilsfähigkeit durch Bildung.
Unsere Gesellschaft leistet sich einerseits im kognitiven Bereich das aufwändigste
Schul- und Bildungssystem in der Geschichte der Menschheit; sie setzt aber an-
dererseits mit einer nur schwer begreiflichen Selbstverständlichkeit voraus, dass
wir bei der Sozial- und Moralbildung, der Geschmacks- und Urteilsfindung ganz
ohne Schulung gut und böse, nützlich und schädlich, hässlich und schön, wichtig
und überflüssig zu unterscheiden vermögen.
Wir überlassen die für eine glückliche Lebensführung des einzelnen mehr denn
je erforderliche Urteils-, Geschmacks- und Bedürfnisbildung einfach dem „heim-
lichen Lehrplan“ von Mode und Werbung, von Massen- und Konsummedien.
Warum übersehen wir nur so beharrlich, dass wir nicht bereits als perfekte Kon-
sumentensouveräne, politisch mündige Bürger, urteilsfähige Zeitgenossen, sozi-
alkompetente Nachbarn und ästhetisch sensible Kulturteilnehmer auf die Welt
kommen?
Der Anstieg der Informationsflut droht die Kulturen soliden Wissens zu über-
spülen. Bildung hingegen schwimmt nicht mit, sondern sucht das Ufer. Nur der
Stand auf festem Grund und Boden gestattet, mit Urteil, Augenmaß und guten
Gründen auszuwählen und abzuwägen. Nur Bildung hilft uns, im mare magnum
des Wissbaren das Wissenswerte nicht zu verfehlen. Nicht zuletzt lehrt sie uns
zu wissen,was wir getrost übersehen dürfen. So erwerben wir uns Gelassenheit
und gewinnen die Ruhe, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren. Je mehr die
Informationen ausufern, desto mehr bedarf es der Bildung, die Deiche aufwirft
und Kanäle zieht.
Die „Spaß-“ und „Multioptionsgesellschaft“ wirbt mit der Devise, alles sei mög-
lich, alles zu haben – übrigens auch die Bildung. Wer aber nur Bildungsbrocken
schluckt, ist noch lange nicht gebildet! So wenig wie eine Katze, die einen Kana-
rienvogel gefressen hat, schon singen kann. Alles, was nur zu drei Vierteln ver-
standen ist, „verschmilzt nicht mit der Person des Lernenden, sondern bleibt ein
umgehängter Mantel ohne wirklichen Bildungswert“ (Ludwig Reiners). Das Mehr
an Möglichkeiten macht vorerst nur fahrig und nicht schon reicher. Nicht die Fülle
erfüllt, sondern die Kraft, sich das Zuträgliche anzueignen und das Förderliche
festzuhalten. Auch hier gilt: Wer viel haben kann, muss viel wählen. Doch die Fähigkeit zu wählen – das Echte vom Trug, Wertvolles vom Billigem, das Gediegene
vom Läppischen, Berechtigtes von Beliebigem zu unterscheiden – kann niemand
einfach haben, sie muss erworben werden. Je mehr Möglichkeiten wuchern, des-
to mehr bedarf es der Bildung, die Form und Fassung findet und wachsen lässt.
Der Mensch ist das Wesen, das nicht einfach lebt, sondern sein Leben führt.
Dafür bedarf er der maßgebenden Bilder und weither überlieferten Vor-Bilder, es
bedarf geprüfter Gedanken und verbürgter Vorstellungen, die ein Ziel setzen und
in Anspruch nehmen. Nur was uns fordert, bewegt uns auch. Und nur ein selbst-
bestimmtes Leben, „das zu denken gibt“ (Rüdiger Safranski), vermag seinerseits
vorbildlich zu sein. Bildung bringt auf den Weg dorthin. Echte Bildung ist immer
„Erfüllung und Antrieb zugleich, ist überall am Ziele und bleibt doch nirgends
rasten, ist ein Unterwegssein im Unendlichen, ein Mitschwingen im Universum,
ein Mitleben im Zeitlosen“ (Hermann Hesse).
Nicht zuletzt wird auf diesem Wege Widerstandsfähigkeit erworben gegenüber
den trivialen Verführungen durch Mode und Werbung und den allgegenwärti-
gen Denkzwängen, die von den Meinungsmedien ausgehen. Denn Bildung ist
vor allem auch dies: Arbeit an sich selber. Nicht was einer hat, kann, weiß oder
vorstellt, ist die Sache, um die es geht, sondern die Frage der Bildung ist, wer
einer ist. So ist, wer sich bildet, tätig, aus sich selbst das Beste zu machen. Er
verkümmert nicht in der Einfalt seiner Interessen, er entwickelt sie zur Vielfalt. Er
gewinnt Umfang, Übersicht und Hintergrund. Im besten Falle findet er zu dem
Schwergewicht, das uns – wie der Kiel das Boot – aufrecht gehen lässt. Bildung
ist die Antwort auf die Frage, worauf es eigentlich ankommt, was wahrhaft zählt
und letztlich bleibt, was Bestand, Geltung und Gültigkeit hat. Sie befreit aus
Beliebigkeit, Belanglosigkeit, Flüchtigkeit, aus dem bloßen Ablauf des Lebens.
Schule und Massenuniversität stehen derzeit in der Versuchung, ihren Bildungs-
auftrag als Ballast abzuwerfen, um als Ausbildungsstätten auf Touren zu kom-
men. Die Routen schreibt das ökonomische Kalkül vor: Nicht, was der Mensch
braucht, sondern welche Sorte Mensch gebraucht wird, ist hier das Kriterium.
Der Mensch wird fit gemacht für den Betrieb, Ausbildung ist Brauchbarmachung,
Zurichtung zur geldwerten Verwendbarkeit. Ausbildung aber ergänzt Bildung al-
lenfalls, vermag sie jedoch nie zu ersetzen.
Der Auftrag der Wissenschaft hieß einmal, zutage zu bringen; inzwischen hat sie
die ganze Welt ins kalte Licht des Labors getaucht, und unter den Menschen des
wissenschaftlichen Betriebes sind wenige, die innen hell wurden. Der Fortschritt
der Wissenschaften hat die große in kleine Welten zerlegt, in denen sich allenfalls
arbeiten, aber nicht leben lässt. Denn der Mensch lebt im Haus der Sprache, dort,
wo er verstanden wird, wenn er spricht, und versteht, was gesprochen wird.
Doch wo die Wissenschaften ihre Türme bauen, zerfällt die Sprache ins babyloni-
sche Gewirr spezialisierter Idiome. Bildung hingegen – eigentlich eine Art Heim-
weh, die Sehnsucht, überall zu Hause zu sein – haust nicht in Fächern, sie sucht
ihre Heimat unter Menschen, die Menschen verstehen und sich als Verstehende
untereinander verständigen.
Der Anstieg der Informationsflut droht die Kulturen soliden Wissens zu über-
spülen. Bildung hingegen schwimmt nicht mit, sondern sucht das Ufer. Nur der
Stand auf festem Grund und Boden gestattet, mit Urteil, Augenmaß und guten
Gründen auszuwählen und abzuwägen. Nur Bildung hilft uns, im mare magnum
des Wissbaren das Wissenswerte nicht zu verfehlen. Nicht zuletzt lehrt sie uns
zu wissen,was wir getrost übersehen dürfen. So erwerben wir uns Gelassenheit
und gewinnen die Ruhe, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren. Je mehr die
Informationen ausufern, desto mehr bedarf es der Bildung, die Deiche aufwirft
und Kanäle zieht.
Die „Spaß-“ und „Multioptionsgesellschaft“ wirbt mit der Devise, alles sei mög-
lich, alles zu haben – übrigens auch die Bildung. Wer aber nur Bildungsbrocken
schluckt, ist noch lange nicht gebildet! So wenig wie eine Katze, die einen Kana-
rienvogel gefressen hat, schon singen kann. Alles, was nur zu drei Vierteln ver-
standen ist, „verschmilzt nicht mit der Person des Lernenden, sondern bleibt ein
umgehängter Mantel ohne wirklichen Bildungswert“ (Ludwig Reiners). Das Mehr
an Möglichkeiten macht vorerst nur fahrig und nicht schon reicher. Nicht die Fülle
erfüllt, sondern die Kraft, sich das Zuträgliche anzueignen und das Förderliche
festzuhalten. Auch hier gilt: Wer viel haben kann, muss viel wählen. Doch die Fähigkeit zu wählen – das Echte vom Trug, Wertvolles vom Billigem, das Gediegene
vom Läppischen, Berechtigtes von Beliebigem zu unterscheiden – kann niemand
einfach haben, sie muss erworben werden. Je mehr Möglichkeiten wuchern, des-
to mehr bedarf es der Bildung, die Form und Fassung findet und wachsen lässt.
Der Mensch ist das Wesen, das nicht einfach lebt, sondern sein Leben führt.
Dafür bedarf er der maßgebenden Bilder und weither überlieferten Vor-Bilder, es
bedarf geprüfter Gedanken und verbürgter Vorstellungen, die ein Ziel setzen und
in Anspruch nehmen. Nur was uns fordert, bewegt uns auch. Und nur ein selbst-
bestimmtes Leben, „das zu denken gibt“ (Rüdiger Safranski), vermag seinerseits
vorbildlich zu sein. Bildung bringt auf den Weg dorthin. Echte Bildung ist immer
„Erfüllung und Antrieb zugleich, ist überall am Ziele und bleibt doch nirgends
rasten, ist ein Unterwegssein im Unendlichen, ein Mitschwingen im Universum,
ein Mitleben im Zeitlosen“ (Hermann Hesse).
Nicht zuletzt wird auf diesem Wege Widerstandsfähigkeit erworben gegenüber
den trivialen Verführungen durch Mode und Werbung und den allgegenwärti-
gen Denkzwängen, die von den Meinungsmedien ausgehen. Denn Bildung ist
vor allem auch dies: Arbeit an sich selber. Nicht was einer hat, kann, weiß oder
vorstellt, ist die Sache, um die es geht, sondern die Frage der Bildung ist, wer
einer ist. So ist, wer sich bildet, tätig, aus sich selbst das Beste zu machen. Er
verkümmert nicht in der Einfalt seiner Interessen, er entwickelt sie zur Vielfalt. Er
gewinnt Umfang, Übersicht und Hintergrund. Im besten Falle findet er zu dem
Schwergewicht, das uns – wie der Kiel das Boot – aufrecht gehen lässt. Bildung
ist die Antwort auf die Frage, worauf es eigentlich ankommt, was wahrhaft zählt
und letztlich bleibt, was Bestand, Geltung und Gültigkeit hat. Sie befreit aus
Beliebigkeit, Belanglosigkeit, Flüchtigkeit, aus dem bloßen Ablauf des Lebens.
Schule und Massenuniversität stehen derzeit in der Versuchung, ihren Bildungs-
auftrag als Ballast abzuwerfen, um als Ausbildungsstätten auf Touren zu kom-
men. Die Routen schreibt das ökonomische Kalkül vor: Nicht, was der Mensch
braucht, sondern welche Sorte Mensch gebraucht wird, ist hier das Kriterium.
Der Mensch wird fit gemacht für den Betrieb, Ausbildung ist Brauchbarmachung,
Zurichtung zur geldwerten Verwendbarkeit. Ausbildung aber ergänzt Bildung al-
lenfalls, vermag sie jedoch nie zu ersetzen.
Der Auftrag der Wissenschaft hieß einmal, zutage zu bringen; inzwischen hat sie
die ganze Welt ins kalte Licht des Labors getaucht, und unter den Menschen des
wissenschaftlichen Betriebes sind wenige, die innen hell wurden. Der Fortschritt
der Wissenschaften hat die große in kleine Welten zerlegt, in denen sich allenfalls
arbeiten, aber nicht leben lässt. Denn der Mensch lebt im Haus der Sprache, dort,
wo er verstanden wird, wenn er spricht, und versteht, was gesprochen wird.
Doch wo die Wissenschaften ihre Türme bauen, zerfällt die Sprache ins babyloni-
sche Gewirr spezialisierter Idiome. Bildung hingegen – eigentlich eine Art Heim-
weh, die Sehnsucht, überall zu Hause zu sein – haust nicht in Fächern, sie sucht
ihre Heimat unter Menschen, die Menschen verstehen und sich als Verstehende
untereinander verständigen.
Bildungsanstrengungen sind daher immer auch Investitionen in den Erhalt der
gesellschaftlichen Gesprächs- und Handlungsfähigkeit, die verloren geht, wenn
die Welt hinter den Bildern der Welt verschwindet.
Tschuang Tse, einer jener fernen Vertrauten aus dem Reich der Mitte und der
Weisheit, sagt uns: „Willst Du für ein Jahr voraus planen, so baue Reis. Willst Du
für ein Jahrzehnt vorausplanen, so pflanze Bäume. Willst Du für ein Jahrhundert
planen, so bilde Menschen.“
Vor 115 Jahren, im Oktober 1901, erschien das erste Vorlesungsverzeichnis der
Lessing Hochschule. Sehen wir uns um, nach 115 Jahren: Auch wir sind, und wir
sind auch das (Zwischen-)Ergebnis dieser 115jährigen Bildungsaussaat! Gerade
wenn wir nicht mit allem und jedem in uns und um uns zufrieden sind, sollten
wir bedenken, dass Zukunftsinvestitionen sich immer erst in der Zukunft loh-
nen! Werner Remmers hat als niedersächsischer Kultusminister einmal formuliert,
man müsse, was die Bildungspolitiker pflanzen, in Ruhe – eben wie eine Pflanze
– wachsen lassen. „Wir dürfen sie nicht alle vierzehn Tage ausbuddeln, um zu
sehen, welche Wurzeln sie geschlagen hat.“
Ein wenig von diesem unaufgeregten Zukunftsvertrauen wünschten wir uns auch
von jenen Berliner Bildungspolitikern, die nach dem vielleicht allzu kurzschlüssi-
gem Entzug der Förderung für die Lessing Hochschule im vergangenen Jahrzehnt
über künftige Unterstützungsmöglichkeiten für diese Hochschule werden neu zu
befinden haben.
Was weiß das Hauptstadt-Berlin der noch jungen Berliner Republik noch um das
einstige Kultur- und Bildungsjuwel in den eigenen Mauern? Um jenes „Berliner
Bildungsharvard“ (Joachim Kreutzkam), an dem alles gelehrt, gedacht und ge-
wirkt hat, was in den 20er und frühen 30er Jahren in deutscher Sprache und
Kultur Rang und Namen hatte: Albert Einstein, Max Scheler, C.G.Jung, Alfred
Adler, die Brüder Thomas und Heinrich Mann, George Bernard Shaw, Hermann
Hesse, Paul Löbe, Gustav Stresemann, Walter Rathenau und Theodor Heuss, Lise
Meitner und Helene Stöcker, Erwin Schrödinger und Max von Laue, Georg Simmel
und Werner Sombart, Romano Guardini und Paul Tillich, Ernst Troelsch, Gustav
Radbruch und Carl Heinrich Becker, aber auch Fritz Lang und Gustav Gründgens,
Stefan Zweig, Carl Zuckmayer, Max Reinhardt, Fritz Kortner, Wilhelm Furtwäng-
ler, Alfred Kerr und viele, viele andere mehr!
Wenn wir Namen aufzählen – unter ihnen nicht weniger als acht Nobelpreis-
träger! – , dann werden wir uns angesichts der Fülle jener, deren zu gedenken
wäre und die zu erwähnen sind, geradezu unvermeidlich rügbarer Unterlassun-
gen schuldig machen.
108
Ein Name allerdings darf in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben: der
Name (und das Werk) jenes Mannes, ohne dessen Wirken für diese Hochschule
wir wohl keinen Anlass hätten, einer großen Vergangenheit zu gedenken und an
einer hoffentlich ebenso bedeutsamen Zukunft zu bauen. Ich spreche von jenem
legendären Direktor dieser Einrichtung, Ludwig Lewin, der die Lessing Hochschu-
le 1914, im Alter von 27 Jahren, übernahm und im Frühjahr 1933 von den Nazis
aus seinem Amt vertrieben wurde. In den 60er Jahren, nach ihrer Wiederbegrün-
dung durch Willy Brandt in den Jahren zwischen 1965 und 1967, stand Ludwig
Lewin noch einmal – bis zu seinem Tod 1967 – an der Spitze dieser Einrichtung
und versuchte an die großen Leistungen der Vergangenheit anzuschließen. Wir
werden Ludwig Lewin – dem ab 1914 das Aufblühen der Lessing Hochschule und
1965 bis 1967 auch ihre Wiederbelebung zu danken sind – in einer eigenen Ver-
anstaltung im Rahmen unserer geplanten Ringvorlesung zu den großen Lehrern
der Lessing Hochschule gedenken.
Die Philosophische Fakultät der Freien Universität Berlin führt in ihrer Laudatio
zur Verleihung der Ehrendoktorwürde an Ludwig Lewin im November 1967 aus:
Diese Ehrung ist „Dr. Ludwig Lewin (gewidmet), dem bedeutenden Mittler zwi-
schen Wissenschaft und Bildung, dem es in den Jahren zwischen 1914 und 1933
gelungen ist, die Berliner Lessing Hochschule zu einem geistigen Mittelpunkt
Berlins zu entwickeln, der in ihrem Kreis sowohl großen Gelehrten Berlins und
der gesamten deutschsprachigen Welt wie führenden Politikern seiner Zeit ein
Forum öffentlicher Wirkung gegeben hat“.
Von Anfang an so ehrgeizig wie zielbewusst und konsequent versuchte Ludwig
Lewin die Lessing Hochschule als „Podium der Eliten“ aus Wissenschaft, Philo-
sophie, Kunst, Wirtschaft, Religion und Politik zu etablieren. Der Plan ging auf:
schon bald wurde die neue Einrichtung zum Treffpunkt der damals maßgeblichen
Geister. Max Liebermann unterrichtete Aquarellmalerei, Tilla Durieux und Mary
Wigman lehrten Schauspiel und Tanz, Wilhelm Furtwängler und Hans Pfitzner
boten Kurse in Kompositionslehre an, der Mathematiker und Schachweltmeister
Emanuel Lasker dozierte über „Strategie im Krieg, im Spiel und in der Liebe“, die
Nobelpreisträger Max von Laue (Chemie) und Erwin Schrödinger (Mathematik)
schätzten die Bühne der Lessing Hochschule als Experimentierfeld für neue na-
turwissenschaftliche Denkansätze.
Albert Einstein formulierte 1928 auf einer seiner Berliner Werbereisen zugunsten
der Lessing Hochschule (die sich, damals wie heute, ohne nennenswerte finan-
zielle Unterstützung von öffentlicher und privater Seite in höchst prekärer Situ-
ation befand): „Wenn es diese Einrichtung nicht schon gäbe, müsste man sie
schleunigst erfinden“; und der Philosoph Max Scheler, neben George Bernard
Shaw einer der ersten großen Präsidenten der Lessing Hochschule, erklärte, in
großer Übereinstimmung mit Ludwig Lewin, zum Ziel dieser – von ihm schon so
genannten – „Bildungsuniversität“: Es gelte, „die großen Synthetiker der Epoche
zu versammeln und ihnen eine Bühne zu geben. Überhaupt müsse man den Typ
des „Zusammenhangswissenschaftlers“ und Generalisten fördern. Spezialisten,
die uns die Welt in immer kleinere Bestandteile zerlegten, gäbe es schon genug!
Der so unermüdlichen wie einfallsreichen Umtriebigkeit Ludwig Lewins ist es zu
danken, dass sich die neue Einrichtung schon bald zu einem geistigen, kulturellen
und politischen Zentrum entwickelte, von dem vielfältige Anregungen und Wir-
kungen jenseits enger Fächergrenzen ausgingen. Mit anderen Worten: Er hatte
das Wunder vollbracht, am Vorabend des Dritten Reiches, mitten im politisch und
ideologisch zerrissenen Berlin, eine Oase der Nachdenklichkeit und Toleranz zu
begründen, in der, jenseits staatlich verwalteter Wissensarbeit und -vermittlung
und unabhängig von kirchlicher und parteipolitischer Patronage, die drängenden
Fragen der Gegenwart bedacht und Möglichkeiten zukünftiger Lösung erörtert
werden konnten. „Durch die Verbindung von wissenschaftlicher Lehre, politi-
scher Reflexion und künstlerischer Realisation in einer Institution (wurde) das
geistige Leben der 20er Jahre zugleich repräsentativ dargestellt und verantwort-
lich mitgestaltet.“(Willy Brandt, 1967)
Etwas Vergleichbares könnte und sollte vielleicht die Lessing Hochschule dieser
Tage wieder gelingen: ein Forum der vielgestaltiger gewordenen „Berliner Repu-
blik“ zu sein, Ansprechpartner für Politiker und politisch Interessierte, für Junge
und Alte, Bewahrer und Innovatoren, ein Forum, auf dem es immer wieder auch
zu bemerkenswerten Denk- und Debattenzwischenfällen kommt. Die Geschichte
der Lessing Hochschule ist nicht nur ein Stück Berliner Bildungsgeschichte, sie ist
ein Dokument der Geistesgeschichte der Weimarer Republik, und sie wird, das
wünschen wir der Jubilarin im 115. Jahr ihres Bestehens und im 50. Jahr ihrer
Wiederbegründung, sich mit kraftvoller Handschrift in die Annalen der Berliner
Republik einschreiben!
Anzumerken bleibt: Ludwig Lewin selbst wurde nicht müde, daran zu erinnern,
dass der Name Lessing kein Zufallsprodukt war, sondern Programm. Religions-
wissenschaftliche und religionsgeschichtliche Grundsatzfragen, zumal der Pro-
blemkreis religiös motivierter Gewalt und die spiegelbildliche Suche nach religi-
öser Toleranz und Überwindung der Gegensätze gehörten von Anfang an zum
Kernbestand der Themen und Debatten an der Lessing Hochschule. An diese Tra-
ditionslinie schließen nicht zuletzt auch aktuelle Bemühungen an, an dieser Ein-
richtung – gerade auch unter dem Eindruck der jüngsten Migrations- und Flücht-
lingserfahrung – ein eigenes „Zentrum für Toleranzforschung“ zu etablieren.
Die Gründer und Förderer der Lessing Hochschule hatten ein hellsichtiges Auge
für die gänzlich vorbildlosen Bedürfnisse lebenslangen Lernens und Sich-Fort-
bildens in einer „immer schneller werdenden Zivilisation“. Es ging ihnen damals
(und geht uns heute!) nicht nur um die Befriedigung individueller Bildungswün-
111
sche, nicht nur um akademische Bildungsauffrischung einer gesellschaftlichen Eli-
te. So wichtig und legitim die individuelle Bereicherung und das „Bildungsglück“
des einzelnen gewiss auch sind – noch wichtiger ist das „soziale Kapital“, welches
sich durch Begriff und Sache der „Erwachsenenbildung“ und des „lebenslangen
Lernens“ erschließt